Afghanistan "Amerikas Machtdemonstration ist verpufft"

Stand: 14.11.2021 | Lesedauer: 6 Minuten

Von Alfred Hackensberger
Korrespondent

Kaum hatten die USA und ihre Nato-Partner Afghanistan verlassen, brach das mühsam aufgebaute Staatssystem zusammen, die Taliban übernahmen. Wie konnte das passieren? Der ehemalige Top-Agent und Verhandler des BND, Gerhard Conrad, sieht ganz klare Fehler des Westens. Der katastrophale Abzug der NATO-Streitkräfte aus Afghanistan ist nun wenige Monate her. Sehen Sie die WELT-Doku über ein Land unter der Herrschaft von Koran und Kalaschnikows.
Quelle: WELT/Andrea Ohms, Alfred Hackensberger

Der Islamwissenschaftler Gerhard Conrad ist ein bekannter Experte für die arabische Welt. Der heute 67-Jährige war als hochrangiger Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) über viele Jahre unter anderem in humanitäre Geheimverhandlungen zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah wie auch der palästinensischen Hamas involviert. Von 2016 bis 2019 leitete Conrad das nachrichtendienstliche Lage- und Analysezentrum der EU (Intcen).

WELT: Herr Conrad, was haben Amerika und seine Nato-Partner in Afghanistan falsch gemacht?

Gerhard Conrad: Amerika hat das Staatswesen der Taliban nach "9/11" buchstäblich pulverisiert. Der Fehler lag darin, dass man sich danach anschickte, selbst eines aufzubauen. Man hatte ein Exempel statuiert, dass niemand Amerika ungestraft angreifen könne. Aber diese Machtdemonstration ist verpufft, als man staatliche Strukturen nach eigenen Vorstellungen zu schaffen begann. Das hat mit der problematischen Selbstbezogenheit eines "Gutmenschenkolonialismus" und der Ambition zum "Nation-Building" zu tun. Das können die Afghanen auch selber, und sie müssen es auch selbst tun. So hätte man viel Geld und auch viele Menschenleben gespart.

WELT: Versteht der Westen nicht, was er tut?

Conrad: Es ist ein kulturelles und gesellschaftliches Problem. Mit einem militärischen Eingreifen können Sie punktuell, wenn Sie Glück haben, ein limitiertes Einzelergebnis erzielen. Das hat man in Afghanistan gemacht, auch im Irak und in Libyen, wo man Diktatoren und Regime zu Fall brachte. Aber man muss sich im Klaren sein, dass ein neues Regime notwendig auf der gleichen Gesellschaft aufbaut wie sein Vorgänger. Wenn wir zu den frühen postkolonialen arabischen Staaten zurückblicken, dann sieht man, dass zumeist eine selbst gezogene Machtelite die nächste ablöste. Das Konzept des bonum commune, als Grundlage für staatliche Machtausübung, stand viel zu selten im Vordergrund. Das ist in den tradierten Formen des orientalischen Autoritarismus bekanntlich auch nicht vorgesehen. Betrachtet man diese postkolonialen Staaten historisch, dann folgte hier ein problematisches System dem anderen.

Gerhard Conrad
Quelle: picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka

WELT: Warum ist das so?

Conrad: Die Systeme beruhen eben auf der Form, wie Macht in der Region, im Übrigen früher auch in Europa und anderswo, akkumuliert und praktiziert worden ist - sei es in der Familie, im Klan und in Stämmen. Paternalismus, Patrimonialismus, Tribalismus und damit eingehende Klientelbeziehungen sind verbreitete politische und gesellschaftliche Strukturmerkmale. Dies sind komplexe Systeme mit einer Reihe von eigenständigen und keineswegs gleichgerichteten Substrukturen, mit jeweils kollektiven wie individuellen Identitäten, Abhängigkeiten und Loyalitäten. Eine mal mehr, mal weniger gewaltsame Klammer hält das Ganze zusammen. Wenn diese Klammer entfällt, zerfällt das Gebäude.

WELT: Das Gebäude in Afghanistan hielt 20 Jahre. Warum kollabierte es erst mit dem Abzug der USA?

Conrad: Vereinfacht gesagt und aus der Perzeption der Betroffenen formuliert, hatte ein patrimoniales System das andere abgelöst. Die Amerikaner waren die neuen "Clanchefs" und hatten als Weltmacht sozusagen den größten Prügel. Solange der wirksam war, funktionierte das neue System, wenngleich häufig mehr schlecht als recht. Wenn die Russen interveniert hätten, dann wäre das System eben russisch gewesen wie seinerzeit nach 1979. Wer den größten Prügel in der Hand hat, kann zumindest punktuell überlegene Zwangsgewalt ausüben, und wenn das nötige Kleingeld da ist, kann man ausreichend finanziell unterfüttern. So schafft und hält man sich eine eigene Klientel.

WELT: Diese lokale Klientel erschient engagiert und loyal, scheint aber nur geschmeichelt zu haben. War man naiv, dass man es für bare Münze nahm?

Conrad: Letztlich ja, insbesondere wenn man wirklich unkritisch daran glauben sollte, was einem gesagt wird.

WELT: War es ein Fehler, dass man den Führern Afghanistans vertraut hat?

Conrad: Sobald ein neuer Herrscher im Sattel sitzt, hat man ja nun die Wahl, nicht nur in Afghanistan: Entweder bekämpft man ihn, was ja auch oft genug geschehen ist. Oder man arrangiert sich, jedenfalls so lange und in dem Maße, wie es sich lohnt. Die städtischen Eliten Afghanistans profitierten hier weit mehr, als etwa die Mehrheitsbevölkerung auf dem Lande. Die Städter betrieben Geschäfte, internationalen Handel. Afghanistan ist seit jeher ein regionales Transit- und Transferland. Doch wer Einfluss in den Städten hat, kontrolliert noch lange nicht das Land, wo die große Mehrheit in ihren Loyalitäten, Strukturen und mit ihren Nöten und Hoffnungen meist alleingelassen lebt.

WELT: Der Hindukusch war bekannt für weitverbreitete Korruption. Waren die USA zu nachlässig, was ihre alliierten Eliten betraf?

Conrad: Was wollen Sie da schon machen?

WELT: Druck ausüben, Kontrolle. Dafür sorgen, dass beispielsweise der Sold bei den Soldaten ankommt. Die hatte man die letzten sechs Monate nicht bezahlt und mies verpflegt.

Conrad: Effektive Kontrolle? Da hätte man ja eine Art handlungs- und durchsetzungsfähigen Rechnungshof gebraucht, und der Kommandeur der amerikanischen Streitkräfte hätte ernsthafte Konsequenzen androhen und letztlich auch durchsetzen müssen. Das macht doch keiner, allein schon aus Ressourcenmangel, und dies nicht nur in Afghanistan.

WELT: Aber führt das nicht zum Kern des Problems? Ohne Korruption, mit regelmäßig und gut bezahlten Soldaten wäre der Zusammenbruch nicht so schnell erfolgt.

Conrad: Ja, ohne klare und glaubhafte persönliche Lebensperspektive wussten die Soldaten nicht, warum sie für eine ferne Zentralmacht kämpfen sollten, die ihre Belange nicht im Blick hatte.

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WELT: Um eine einfache Analogie zu verwenden: Es gibt Leute, die wissen, wie man Fußball spielt, aber ein Spiel lesen können sie nicht. Verhält es sich bei den Amerikanern und Afghanistan ähnlich? Sind Intervention deshalb zum Scheitern verurteilt, weil man als Ausländer Land und Leute nicht versteht?

Conrad: Diese Einsicht wird ja nun wieder im Nachhinein allseits von Groß und Klein verbreitet: Letztlich habe man Afghanistan nie verstanden. Dies ist allerdings umso befremdlicher, als es zu keinem Zeitpunkt an etablierten wissenschaftlichen Erkenntnissen gefehlt hatte. Wer mit dem Anspruch antritt, im Rahmen von militärisch unterfüttertem "Nation-Building" flächendeckend und grundlegend Gesellschaften verändern zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt. Jede Kultur muss ihren eigenen Weg in eine moderne Welt finden und gehen. Die über Jahrhunderte und zahlreiche, zum Teil weltweit verschuldete Katastrophen entstandene westliche Form, zu leben, zu wirtschaften, zu handeln, entspricht nicht Kulturen und Zivilisationen anderer Herkunft und Ausprägung. Gesellschaftliche und daraus resultierende politische Transformations- und Adaptionsprozesse an eine Welt des 21. Jahrhunderts sind langwierig, schwierig, schmerzhaft, voller Widersprüche und Rückschläge.

WELT: Wie meinen Sie das?

Conrad: Nehmen wir einen ganz offensichtlichen Punkt, nämlich die Menschenrechte. Wollen Sie in einem Gefängnis im Nahen Osten sitzen? Sicher nicht, wie ein Blick allein in die Berichte von Amnesty International zeigt. Die Frage ist, wie und insbesondere mit welcher zeitlichen Perspektive kann eine lange, keineswegs erst mit den aktuellen Systemen zu assoziierende Tradition von Misshandlung im Strafvollzug durch gelebten gesellschaftlichen Wertewandel überwunden werden.

WELT: Hätte es letztlich mehr gebracht, wenn sich die USA nach dem Sturz der Taliban schon 2001 aus Afghanistan verabschiedet hätten?

Conrad: Unter der Voraussetzung ausreichender militärischer Wachsamkeit und Reaktionsbereitschaft von außen vermutlich ja. Zumindest wären wohl weniger eigene Opfer zu beklagen gewesen.


Quelle: welt.de